Hochmut kommt vor den Fall…
nicht immer
Vorspiel
Als ersten 100 km Lauf 10 Mal 10 Kilometer zu laufen ist verrückt, ich weiß. „Cornelius mach das nicht, du kommst ständig am Ziel vorbei, musst aber weiterlaufen bei zunehmender Ermüdung“ sagte mein Laufkumpel Hermann bei einer unserer regelmäßigen gemeinsamen Laufrunden. „Vor Jahren habe ich in Brandenburg einen 100er, den man in 5 km Runden laufen musste, bei Kilometer 50 aufgegeben“. Ich wundere mich. Wie kann man einen 100 Kilometerlauf nach 50 Kilometern aufgeben? Müdigkeit kommt und man muss halt weiterlaufen. Ja, es ist mental schwieriger bei Rundenläufen, aber trotzdem…. Ich hörte zu und schwieg. In Sachen Ultraläufen ist er erheblich erfahrener als ich, da er seit 17 Jahren Marathon und Ultra läuft. Im Übrigen interessierte mich genau das. Was macht das mit mir. Schaffe ich das? Wie geht es mir bei zunehmender Erschöpfung durchs Ziel und weiter zu laufen. In der Pampa wird man trotz Erschöpfung weiterlaufen, weil man ansonsten eine sehr weite Strecke gehen müsste. Aber würde mir das auch am Ziel gelingen, wenn das Aufhören so einfach ist?
Zugleich müssen die Bewohner von Winschoten ziemlich verrückt sein und aus dem Lauf ein Event machen. Sie schmücken die Stadt mit Fahnen und Girlanden und feiern den ganzen Tag. So meldete ich mich frühzeitig in Winschoten an.
Beim 80 Kilometer Fidelitas Nachtlauf, meinem ersten Ultralauf überhaupt hatte ich mich völlig verausgabt. Diesen hatte ich nach einer einjährigen Verletzungspause ein dreiviertel Jahr lang mit hartem Training vorbereitet. Aus Angst mich zu überfordern, beschloss ich nach diesem ersten Ultralauf die Saison zu beenden und Winschoten abzusagen. Die Stornierungsmail sendete ich drei Tage nach dem Lauf gleich abends nach Winschoten ab. In der darauffolgenden Nacht schlief ich schlecht. Ich merkte, dass ich traurig war wegen der Absage, wollte dort laufen, hatte aber schon abgesagt.
Am nächsten Morgen fand ich eine Mail vom Winschotener Racedirektor in meinem Emailbriefkasten mit der Bitte, ihm meine Bankdaten durchzugeben, damit er mir das Geld rücküberweisen kann. Also schrieb ich ihm, dass ich doch nicht zurücktreten will und erklärte es ihm. Etwa 10 Minuten später antwortete er mit „Dear Cornelius, that´s great news“. Ich war glücklich über diese Antwort und freute mich auf diesen Lauf, sofort kamen aber auch Angst und Druck vor dieser Aufgabe.
Vorbereitung
Ich regenerierte 7 Wochen und lief in dieser Zeit nur mit sehr stark angezogener Handbremse: Sehr geringe Umfänge von 30 – 35 Kilometern pro Woche, die ich in der 6. und 7. Woche auf 70 Kilometer steigerte. Danach trainierte ich 4 Wochen lang mit teilweise 135 Kilometern pro Woche sehr hart. Im Gegensatz zum Karlsruher Nachtlauf klappten alle langen Läufe gut. Freitag drei Wochen vor Winschoten wären 50 – 55 Kilometer dran gewesen. Es gewitterte aber stark. Also lief ich drei Stunden später los. Immer noch blitzte und donnerte es ständig. Da die Blitze zu nah waren, brach ich diesen langen Lauf nach 4 Kilometern ab. Am nächsten Tag war ein Familienfest. Gegen 21 Uhr kamen wir zurück, 21.20 Uhr lief ich los. Ich stelle das Auto mit weiteren Getränken, meinen Kohlenhydraten sowie Salzkapseln an den Rand der Weinberge. Mitten in der Langen Runde würde ich nach 25 oder mehr Kilometern nicht mehr loslaufen können, wenn ich für weitere Getränke nach Hause müsste. Deshalb hatte ich das Auto ans Ende unserer Wohnstraße gestellt. Ich wollte inmitten des Laufes nicht zum Trinken nach Hause müssen. Ich war mir sehr unsicher, ob ich wirklich die 50 Kilometer schaffen würde, deswegen sagte ich zu Simone, dass ich vielleicht bald zurück komme, sie aber nicht warten soll. Einen Trinkrucksack mit einem 1,5 Litern Limonaden – Mineralwassergemisch nahm ich für diesen mit. Diesen langen Lauf durch die Nacht genoss ich total. Ein Dorf weiter, ziemlich genau auf der anderen Seite des Tals fand eine kulinarische Wanderung statt. Man hatte verschiedene Zelte in den Weinbergen aufgebaut, es gab dort verschiedene Leckereien. Als ich loslief ging dort gerade das Abschlussfeuerwerk los. So konnte ich zum Start meines Langen Laufes in das Abendleuchten hinein das Feuerwerk genießen. Ich genoss die Einsamkeit in der Nacht durch die Südpfälzer Weinberge. Nur bedauerte ich, dass es nicht mehr für die Morgendämmerung reichte. Die gerichteten weiteren Getränke im Auto hatte ich nicht benötigt, meine mitgeschleppten 1,5 Liter hatten ausgereicht. Vielleicht sollte ich doch mal in Biel laufen (der legendäre 100 km Lauf von Biel startet um 22 Uhr, man läuft durch die Nacht), weil das durch die Nacht Laufen wirklich toll war. Um 2 Uhr 20 kam ich nach 51 Kilometern zurück. Simone empfing mich mit den Worten „um 4 Uhr hätte ich die Polizei gerufen“. Sie hatte sich einfach nicht vorstellen können, dass ich nach dem langen und intensiven Familienfest wirklich 50 Kilometer durch die Nacht laufen würde.
Auch der Abschlusslange Lauf klappte gut: 60 Kilometer in 6:03 mit 700 Höhenmetern und ich war nicht übermäßig erschöpft. Jetzt noch 2 Wochen tapern. Das bedeutet, man läuft so wenig wie möglich, damit der Körper ausruhen kann, damit man am Wettkampftag absolut fit ist. Andererseits läuft man so viel, dass die Form, die man erarbeitet hat bis zum Wettkampftag konserviert wird. Macht man in der Taperingphase zu viel, vermasselt man sich den Wettkampf. Wenn ich die 2 Wochen angemessen tapern würde, wäre ich gut vorbereitet.
Winschoten
Wir sitzen in der Halle. Am linken Rand hinter dem Eingang befinden sich Informationsschalter und Startnummernausgabe. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte man die Dropbags abgeben. Ich habe 7 Flaschen gefüllt mit meinen flüssigen Kohlenhydraten, Salzkapseln, 1 Regenjacke, 1 Langarmshirt und weiteres Kohlenhydratpulver für den Fall dass ich mehr brauche. Der Veranstalter transprotiert diese Dropbags entweder zu Kilometer 5 oder wie ich es gemacht habe 300 m vom Ziel weg in die Coachingzone.
In der Mitte der Halle stehen Tische und Stühle. Um mich herum sitzen ausgezehrte, durchtrainierte Gestalten. Im Vergleich zu ihnen komme ich mir dick und unsportlich vor (bei 1,89 wiege ich 80 kg). Zugleich sind die holländischen 100 km – Meisterschaften. 15 Minuten nach dem Start des 100 km Laufes wird zudem ein 50 km und noch einmal 15 Minuten später der 10 Mal 10 km Staffellauf gestartet. Ich habe endlich Zeit innezuhalten zu rastlos waren die Wochen vorher: Unser Garten wurde neu angelegt und 2 Kellerräume renoviert. So gut wie jeden Abend mussten wir Steine wegschleppen und Lehmaushub. In der Folge hatte ich wirklich an jedem Tag schwere Beine, in den letzten Tagen tat mir abends der untere Rücken weh und wegen der Rastlosigkeit (Arbeiten Laufen mich um die Familie kümmern, Steine schleppen) hatte ich wieder mal zu viel Kaffee getrunken. In der Folge machte sich meine rechte Achillessehne die letzten 2 Tage vor dem Wettkampf bemerkbar. Eigentlich habe ich meine Achillessehenprobleme gut im Griff mit Athletiktraining, Faszienrolle und Dehnen, wenn ich mich einigermaßen basisch ernähre. Sobald ich meine Übungen vernachlässige oder mich zu säurebetont ernähre meldet sie sich sofort. Also nahm ich wieder mein Entsäuerungsmittel, was mir vor dem Nachtlauf schon gute Dienste geleistet hatte.
Genau jetzt eine Stunde vor dem Start des bisher längsten Laufes meines Lebens realisiere ich meinen Zustand: Ich bin definitv nicht ausgeruht, es wird eine Frage der Zeit sein, wann der untere Rücken, die Achillessehne und überhaupt meine Beine sich melden. Die Chance zu finishen schätze ich in dem Moment geringer als 50% ein. Ich könnte heulen. Natürlich beschließe ich zu kämpfen. Lieber will ich das Risiko eingehen, bei 80 oder 90 Kilometern entkräftet aufhören müssen und in übertragenem Sinne „als Krieger sterben“ als es gar nicht zu versuchen. Simone meiner Frau sage ich nichts von meinen Gedanken. Sie sieht die Tränen in meinen Augen und scheint das für die „Vorwettkampfemotionalität“ zu halten und strahlt mich an. Nach dem Start will Simone einen Ausflug nach Groningen machen. Sie würde mir beistehen wollen, wenn ich aussprechen würde, was mich bewegt. Ich will es aber alleine durchziehen. Leiden und Kämpfen will ich eher alleine. Eine gute Entscheidung wie sich später herausstellte.
Start – das Rennen
Trotz gemeldeten 15 Grad habe ich mich für eine kurze Laufhose entschieden, meinem kurzärmligen Vereinsshirt und leuchtstifthellblauleuchtenden Kompressionssocken, mit denen ich mich von den anderen Läufern unterscheide. Mit ihnen erkennt Simone mich von weitem. Kurz vor 10 Uhr ziehe ich meine wärmende Jacke aus und gebe sie Simone. Einen Abschiedskuss, ihr einen schönen Tag wünschen und auf in den Startblock.
Mich verwirren die beiden parallel liegenden Startbahnen. Ich erfahre, dass für uns „100er“ die linke Startbahn gilt. Die rechte ist für die 10 x 10 km Staffelläufer, die ja nach jeder Runde wechseln.
Durch meine Überpünktlichkeit stehe ich im vorderen Drittel des Starterfeldes. Um Punkt 10 Uhr geht es ohne großes Tamtam los. Wie schon bei meinem letzten Ultralauf keine ACDC oder sonstige Musik, nur der übliche Startcountdown, PENG, und dann setzt sich das Starterfeld in Bewegung. Und – ich werde es nie verstehen – wie immer bei Marathon- und Ulzrawettkämpfen starten etliche Leute in einem Mördertempo, ich schätze erheblich schneller als 4 Min. /km los. Ich bin hochkonzentriert wie in einer tiefen Meditation und laufe los. Normalerweise programmiere ich mich bei Wettkämpfen auf ein Tempo und laufe dies diszipliniert. In Halbmarathons und 10 Km Läufen habe ich das geübt und mich vor Marathons darauf programmiert. Nenne es Doofheit, Zerstreutheit oder wie auch immer, ich hatte mich auf kein Tempo programmiert. Rückblickend würde ich sagen, es war der Stress. Meine Familie trägt meine Lauferei Gott sei Dank mit. Ich fange deswegen sehr früh an zu arbeiten. Ich kann meine Arbeitszeiten selbt bestimmen und arbeite meistens bis 16 Uhr durch, laufe dann und bin meist gegen 18 Uhr zu Hause. Die langen Läufe laufe ich Freitag abends bzw nachts, es sei denn ich muss wie beim Karlsruher Nachtlauf, das Laufen bei Hitze trainieren. Dann vertage ich die langen Läufe auf Samstag oder Sonntag Mittag, wie es halt passt. Dennoch habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen meiner Familie gegenüber. Und natürlich habe ich bei unserem Umbau angepackt, zumal ich durchs Tapering nicht wirklich viel lief. So war die Vorwettkampfzeit also rastlos und erst am Rennmorgen konnte ich nachdenken.
Wie erwähnt hatte ich mich auf kein Anfangstempo programmiert, lasse meine Beine entscheiden und laufe in 5:30 /km los.
Wie bei jedem wichtigen Wettkampf habe ich drei Ziele. Wenn ich eines nicht mehr erreichen kann, greift das Nächste. Das letzte heißt immer „kämpfen“ bzw. „finishen“. Die Ziele lauten also:
- Als Mindestziel laufen und bis zum Umfallen kämpfen und finishen, egal wie. Wobei gesagt werden muss, dass das Cut Off dieses Laufes bei 12 Stunden liegt. Man muss nach 10:50 Stunden die letzte Runde begonnen haben, sonst wird man aus dem Rennen genommen.
- Unter 10 Stunden bleiben
- Mein Traum wären 9:30
Im Vorfeld eines Wettkampfes spreche ich ungern über Ziele, stapele eher tief. Auch aus Unsicherheit ob ich sie schaffe. Nur wirklich nahestehenden Menschen offenbare ich mein echtes Ziel, es sind diesmal die genannten 9:30 Stunden oder nahe dran.
Direkt nach dem man den riesigen einschüchternden Startaufbau, hinter sich gelassen hat, geht es um die Kurve in einen Park. Hier beginnt die „Coachingzone“. Es sind etliche Zelte am Wegesrand aufgebaut von Teams, die ihre Athleten unterstützen. Nach ca. 300 Metern kommt das offizielle Dropzonenzelt. Ich sehe meine Sachen auf dem Tisch gerichtet liegen und bin zufrieden. Gegenüber befindet sich ein Cafe, es ist jeder Tisch besetzt von Leuten, die den Athleten zugucken. Nach einigen Hundert Metern kommt ein „Coachingzone End“ – Schild.
Etwa einen Kilometer lang geht es weiter durch den Park. Ich komme in meinen Rhythmus und laufe meinen Stiefel.
Im Vorfeld des Starts war mir ein von seiner Ausstrahlung her interessanter Läufer aufgefallen, vermutlich Holländer. Er hatte ein schwarzes Shirt an an dem vorne das magische Wort „Spartathlon“ und hinten ein japanischer Name aufgedruckt war. Ich treffe ihn auf der Strecke und spreche ihn an. Er sagt, dass er bereits drei Mal den Spartathlon gefinisht hat und diesen Winschotener 100 Km Lauf als letzten langen Lauf vor dem in drei Wochen stattfindenden Spartathlon sieht. Der Spartathlon ist ein 246 Kilometer langer Lauf von Athen nach Spartha, den man in 36 Stunden beendet haben muss. Mit einem Japaner, der beim letzten Spartathlon genau zur selben Zeit ins Ziel gelaufen war wie er, hatte er Trikots getauscht. „Ich darf heute nur nicht zu schnell laufen“ sagt er zu seiner heutigen Renntaktik. Am Schluss war er etwa 30 Minuten schneller als ich….
Ich berichte ihm von meinem Ultradebut und gebe meine Zielzeit mit etwa in 10 Stunden finishen an. „Wenn du beim Fidelitas Nachtlauf 80 km mit 900 Höhenmeter gelaufen bist, entspricht das 89 Kilometer im Flachen.“ Nach dem Karlsruher Nachtlauf war ich wirklich am Ende, hatte mich völlig verausgabt. Schaffe ich hier dann in meinem Zustand 100 Kilometer? Ich werde innerlich etwas kleiner, mein Selbstbewußtsein schrumpft.
Kurz vor Beendigung der ersten 10 Kilometer Runde lasse ich ihn ziehen, unser Tempo hat sich auf 5:10 eingependelt und das ist spürbar zu schnell für mich.
Die erste Runde beende ich in 54 Minuten. Ich fühle mich gut und spüre (noch) nichts von dem körperlichen Harakiri, den ich mit diesem mörderischen Anfangstempo begehe.
Eine Erfahrung vom Karlsruher Nachtlauf war die Ernährung: Deswegen nehme ich meine flüssigen Kohlenhydrate zu mir, aber nicht so viel und trinke so gut wie ausschließlich Wasser.
Nach dem Park kommt eine lange, breite, gerade Straße. An manchen Häusern haben die Bewohner Tische und Stühle aufgebaut, trinken Rosewein oder Sekt und feuern die Läufer an. Nach wenigen Kilometern kommen enge Wohnstraßen. Vereinzelt sind Girlanden um die Häuser herum und über die Straße gespannt. In der ersten Wohnstraße wurden große, auf Holz gemalte und ausgesägte an Stangen befestigte Tiere am Straßenrand aufgestellt. Neben den wirklich in ausreichender Anzahl vorhandenen offiziellen Getränkestationen gibt es unzählige private. Vor fast jedem Hause in den Wohnstraßen sitzen Bewohner, trinken, grillen und feiern und bejubeln die Läufer. Belebte Straßen wechseln sich mit ruhigen ab. Aber auch an den ruhigen sitzen die Menschen und applaudieren. Am Ende der längeren ruhigen an einem Kanal gelegene Straße bei Kilometer 5,5 steht ein großer Traktor mit Tischen und Bänken, jungen Leuten, lauter Musik und Bier. Kurz vor Kilometer 7 kommt eine lange gerade Wohnstraße mit angenehmer Popmusik, gefühlt alle 10 Meter steht ein Kind und bietet den Läufern zur Erfrischung einen nassen Schwamm an. Genau bei Kilometer 7 rennt bei so gut wie jeder Runde ein Mann mit einem Tablett auf mich zu und bietet mir süße Schaumstoffstangen an, die ich als Kind geliebt habe, jetzt bei diesem Wettkampf aber nicht vertragen würde. Jede Runde antworte ich „No thank you“ und laufe weiter. Dann geht es eine kurze Weile an einer Straße vorbei, an der nur auf der rechten Seite Häuser sind und links ein Wäldchen. Ich genieße dort immer die Ruhe, denn direkt nach dem Wäldchen kommen Party, laute Rockmusik und feiernde, fröhliche Leute. Ich öffne den Mund, damit der laute in meine Ohren dringende Schall durch den Mund wieder heraus geht.
Wir biegen links in eine Straße in der am Rand bei Kilometer 9 eine große mit Alufolie umwickelte „9“ an einem Stab befestigt in die Erde gerammt ist. Über die Straße hinweg sind viele Hundert Meter lange Girlanden, die mit orange – gelben nach unten aufgespannten Regenschirmen beschmückt sind. Aus einem Unimog dröhnt wieder laute Rockmusik. Die Straße ist voll von feiernden jubelnden Menschen. Dann links abbiegen, eine kleine ruhige Passage durch ein Rondell nach links in die Start – Zielgerade. Direkt hinter dem Rondell ein Bierstand. Die lauten holländischen Schlager sind nicht das Schlimme. Der DJ singt mit Mikrofon die Schlager völlig schräg mit falschen Tönen mit. Viele jubelnde Menschen. Die zweite Runde beende ich in 54 Minuten.
Wieder nur ein paar Schluck Kohlenhydrate trinken, Salzkapseln, etwas Wasser und weiter. Die ganze Stadt ist abgesperrt, es gibt ein paar Durchfahrtsstraßen, an denen Ordner die Autos für uns Läufer bremsen. An einer dieser Straßen tanzt einer der Ordner immer dann wenn er nichts zu tun hat. Ich werde ihn den ganzen Tag tanzen sehen. Es windet ordentlich, aber immer nur für eine kürzere Zeit, da man ständig die Richtung wechselt. Ziemlich am Anfang der Wohnstraße, wo auch selbt gebastelte Tiere auf Holz gemalt und aufgestellt sind, steht jetzt ein Kind mit Downsyndrom und jubelt.
Ich spreche mit einem holländischen etwas älteren Läufer und erzähle ihm, dass dies mein erster 100er ist und dass ich gerne in 10 Stunden finishen würde. „Man muss die Marathonzeit mal drei nehmen, das ist die mögliche Zeit bei 100 Kilometern. Das wären 3:20“ sagt er bezüglich meiner Wunschzeit. Ich bin 3:22 gelaufen, aber das war Jahre her, vor meiner Verletzung. Dieses Jahr rannte ich 3:38 nicht am völligen Limit. Das wären etwa 10:30 Stunden. Von diesen Gedanken sage ich ihm nichts, werde aber innerlich wieder etwas kleiner. Ich will schneller als 10 Stunden sein, wie ein trotziges kleines Kind will ich das, will will will.
Die dritte Runde beende ich in 54 Minuten. Coachingzone, Salzkapseln, flüssige Kohlenhydrate, Wasser, weiter durch den Park, die lange Straße entlang in die Wohngebiete. Ein älterer erheblich kleinerer Läufer als ich nimmt mich in den Gegenwindpassagen als „Windschutz“, das ist OK für mich, wir laufen zusammen und nicht gegeneinander. Er erzählt, dass er mit 68 Jahren versuchen will in 10 – 10:30 Stunden zu finishen. Er wird erheblich länger brauchen, dennoch habe ich riesigen Respekt vor ihm und vor seiner Leistung, sich das anzutun. Er muss geistig sehr offen sein, noch für diese Art von Leistungssport zu brennen.
Krise
Bei Kilometer 35 kommt was kommen musste: Die Beine werden sehr schwer, meine Bewegungen werden schlagartig unrund und auch beginnt der untere Rücken zu schmerzen. Im ersten Moment werde ich verzweifelt. Ich kann mir nicht vorstellen so noch weitere 65 Kilometer weiter laufen zu können. So ist der erste Impuls aufzugeben. „Aber“, so sage ich mir, „jetzt läufst du den ersten Marathon fertig und noch zwei weitere Runden und siehst dann weiter“. Gesagt getan, ich laufe weiter, um den ersten Marathon zu beenden und dann noch ein Halbmarathon geht auch noch. Auch diese Runde beende ich in 54 Minuten. Im Kopf fühle ich mich ziemlich klar, kein Nebel, ich kann noch gut denken, nur schmerzt der Körper und die Beine sind schwer. Durch aufrechte Haltung hält sich der untere Rücken erträglich, die Achillessehne auch, ein Ziehen im Vorderfuß kommt hinzu. Auch das fühlt sich nicht nach Verletzung an. Das wird wohl kein Ermüdungsbruch werden an diesem Tag. Ich glaube eh, dass die meisten Verletzungen bei Ultraläufern nicht während sondern nach einem Wettkampf kommen, wenn diese dem Körper nicht genug Ruhe und Regeneration geben. Die 5. Runde beende ich in 56 Minuten.
Aufgeben?
Ich gebe es zu: wäre Simone im Ziel gewesen, hätte ich aufgegeben. Ich halte es in diesem Moment einfach für ausgeschlossen, die noch fehlenden 50 Kilometer laufen zu können. Innerlich beginne ich Hermann Abbitte zu leisten für meine Unwissenheit bzw. Arroganz. Bei unserem nächsten gemeinsamen Lauf habe ich Hermann auch in Realität davon berichtet.
Vor jedem Zieldurchlauf hoffe ich, dass Simone nicht da ist, weil ich genau weiß, dass ich dann eventuell aufgeben würde. Ich beschleunige am Zielbereich das Tempo, um sie ja nicht zu treffen.
Bei der 6. Runde beginnen gelegentliche Gehpausen. Ja, ich bin Läufer und nicht Geher, hasse es bei Läufen zu gehen, aber es geht nicht anders. Ich gehe aber nur kurz. 5 Kilometer laufen, dann 100 Meter gehen, 3 – 4 Kilometer laufen und gehen und so weiter. Das Gehen wird mehr und länger werden, das Laufen weniger und zunehmend kürzer. Ziemlich genau in der Mitte der 6. Runde verspüre ich plötzlich Hunger, habe also zu wenig Kohlenhydrate zu mir genommen. Bei einem privaten Getränkestand trinke ich deswegen ausnahmsweise Cola. Die 6. Runde beende ich in 55 Minuten. Ich überlege aufzugeben, kann mir nach wie vor nicht vorstellen es zu schaffen, aber 4 Stunden auf Simone warten ist zu stressig, da kann ich auch weiterlaufen. Also laufe ich.
Salzkapseln, mehr flüssige Kohlenhydrate, Wasser und weiter. Beim Wasser fragen mich die Helfer wie es mir geht. Verdammt nochmal ich bin tot, quäle mich, und die fragen wie es mir geht. Zum Glück denke ich das nur und spreche es nicht aus. Ich antworte „OK“, bedanke mich und laufe weiter. In den Muskeln um das linke Knie herum kommt nun ein starker Schmerz dazu. Das hatte ich beim Fidelitas Nachtlauf auch schon. Ich laufe in den Schmerz hinein, hinke eine Weile stark, nach einigen Hundert Metern verschwindet er. Beim Gehen bleibt er. Die Gehpausen werden häufiger. Sie hinke ich. Die ersten Schritte beim Loslaufen schmerzen stark, danach geht es den Umständen entsprechend gut. Die Musik an den jeweiligen Ständen verwandelt sich allmählich in immer unerträglicher werdenden Lärm. Ich sehe mehr Bier und Wein an den Tischen der Bewohner stehen und ich gebe es zu. Insgeheim wünsche ich mir die Blaskapelle des Kandel Marathons herbei.
Ein reines Vergnügen ist das Laufen nicht mehr. Und natürlich kommt in einem solchen Moment die Frage nach dem warum. Warum tue ich mir diese Quälerei eigentlich an? Die Antwort kommt prompt: Weil mich das Laufen magisch anzieht, weil ich es tun muss, mich es ganz macht. Mir kommt ein Zitat des Musikers David Gilmour in den Sinn: „I go on doing what I have to do!“ Genau das ist es. Diese Antwort stimmt, befriedigt mich, ich laufe weiter.
Ich muss mich sehr zusammennehmen, dem falsch singenden DJ kurz vor dem Start / Ziel nicht meinen Mittelfinger entgegenzustrecken, weil mich das falsche Gesinge nervt, ja, ärgert. Mein Kopf ist immer noch recht klar, jedoch werde ich innerlich zunehmend reizbarer. Gott sei Dank kann ich mich nach außen hin einigermaßen zusammenreißen. So gut es geht am Ziel beschleunigen, damit Simone noch nicht da ist, und weiter. Ich beende diese Runde in 58 Minuten Der Sprecher am Ziel nennt meinen Namen und sagt auf holländisch etwas von meiner Position, ich glaube, es sollte „17“ heißen. So beginne ich die 7. Runde erregt.„Bin ich bei diesem super Startfeld an 17 Position? Kann nicht sein, oder doch? Das musste sicherlich „27.“ oder „37.“ heißen.“ Über 100 Starter waren gemeldet, das wusste ich. Wie ich später recherchierte sind 93 gestartet und davon finishten 53.
Bei der langen geraden Straße bei Kilometer 2 sitzen junge Leute, grillen und trinken Bier. Ich gehe. Sie stehen auf, feuern mich fanatisch an, also beginne ich halt wieder zu laufen. Sie freuen sich, lachen und jubeln. In einem Rondell bei Kilometer 4,5 schneidet mir ein Auto der Rennleitung den Weg ab, ich muss leicht abbremsen. Wutentbrannt brülle ich „aus dem Weg, hopp“, schäme mich hinterher für meinen Ausbruch und laufe weiter.
In Mitte der 7. Runde realisiere ich, dass ich jetzt finishen kann, selbst wenn ich das meiste wandere. Diese Erkenntnis findet aber keinen großen emotionalen Widerhall in mir. Immer noch kann ich es mir einfach noch nicht vorstellen zu finishen. Der Kopf realisiert es, der Rest in mir nicht. Ich bin geistig nicht von Müdigkeit oder Erschöpfung vernebelt, sondern einfach müde und durch das hohe Anfangstempo „abgeschossen“. Die realitische Möglichkeit zu finishen ist noch zu unrealistsch. Zudem will ich den Lauf in 10 Stunden beenden und zwar weitestgehend laufend und eben nicht wandernd.
Bei Kilometer 7 spricht mich eine auf einem Stuhl sitzende Frau auf holländisch an. Ich denke sie will wissen wie es mir geht und antworte „OK“. Der neben ihr sitzende Mann nennt dann meine Startnummer. Sie „ach so“ und macht ein Kreuz auf ihrer Liste. Der Wind hatte meine vordere Startnummer hochgeweht, so dass man sie nicht sehen konnte. Hinten war sie mit Sicherheitsnadeln befestigt. Das waren Rennkontrolleure. „Cornelius geht’s dir gut?“ fragte sie. Sie spricht mich mit meinem Vornamen an, da dieser auf meiner Startnummer aufgedruckt ist. Ich antworte: „Ja etwas müde“.
Meine Zeiten werden langsamer und pendeln sich bei 60 Minuten ein. Ende der 7. Runde (ich beende sie in 1:01) keine Simone, Gott sei Dank, also weiter. Kohlenhydrate, mehr Salz, Wasser und weiter. Bei der geraden langen Straße soll mir das nicht noch mal passieren: Wo ich die jungen Leute vermute laufe ich. Nur kommen sie nicht. Später gehe ich und werde von einem „hopp hopp, run, hopphopp“ erschreckt. Innerlich hatte ich sie zu früh an der Straße vermutet. Also beginne ich wieder zu laufen, sie freuen sich.
Die 8. Runde geht irgendwie vorbei. Für sie benötige ich 1:01 Stunden. Ich amüsiere mich über mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mir mal die Blaskapelle des Kandel Marathons herbeiwünschen würde, aber ich empfinde die Musik als immer noch unerträglicher werdenden Lärm und ich sehne sie mir förmlich herbei. Was ich damals nicht realisierte ist, dass sich meine Wahrnehmung im Verlauf des Wettkampfs stark verändert hat.
Finish
Das Kind mit Dowmsyndrom steht immer noch da. Mein Gehen kommentiert es mit einem missmutigen Stöhnen, fasst an meinen nassen Po und versucht mich anzuschieben. Viele Erwachsene, die diese Szene sehen sind pikiert, mich rührt diese Geste. Also laufe ich wieder los, das Kind mit Downsyndrom freut sich.
Bei Kilometer 7 wieder die Frau auf dem Stuhl „Cornelius, wieviele Runden hast du noch?“ fragt sie mit ihrem holländischen Akzent. „Nach dieser noch eine“. „Super, tolle Leistung“. Ich bin absolut erschöpft, kann aber kilometerweise weiterlaufen. Es fühlt sich anders an als beim Karlsruher Nachtlauf. Ich bin viel weniger vernebelt, hochkonzentriert, auch am absoluten Limit, aber anders, habe trotz aller Erschöpfung einem viel klareren Geist, bin fast in einem meditativen Zustand. Immer häufiger werde ich gefragt, wieviele Runden ich noch laufen muss, werde immer mehr beglückwünscht. Meine Körperhaltung hat sich verändert: Mein Oberkörper hat nun einen Linksdrall. Es gibt bei Youtube einen Film, auf dem man mich bei Kilometer 97 nach einer Gehpause wieder loslaufen sieht, den Linksdrall und auch den „Loslaufschmerz“ kann man da gut erkennen. Ich tauche bei Sekunde 17 auf. (https://www.youtube.com/watch?v=X49ksmBufpg). Auch diese Runde beende ich in 1:01 Stunden.
Zu Beginn der letzten Runde sitzt Simone in der Coachingzone auf der Bank. Jetzt freue ich mich sie zu sehen, insgeheim hatte ich es in dieser Runde gehofft. „Wieviele Runden musst du noch laufen?“ fragt sie. „Nur noch diese“ antworte ich. „Wirklich nur noch diese? Kann ich dann zum Ziel?“ fragt sie ungläubig. Ich bin seit 8:34 Stunden unterwegs „Ja, kannst du“ antworte ich. „Du warst erheblich weniger verpeilt als beim Karlsruher Nachtlauf“, sagt sie mir später. „Präsent, hochkonzentriert und fokussiert. Ich konnte kaum glauben, dass dies wirklich die letzte Runde war, und musste deshalb explizit noch einmal nachfragen.“ Ich küsse sie, forme meine Hände in ihre Richtung zu einem Herz und zeige es in ihre Richtung, nehme Salz, ein paar Schluck Kohlenhydrate zu mir und laufe nicht weiter. Mich gelüstet es nach Cola. Es ist die letzte Runde, also egal: Ich trinke 3 Becher Cola (die Helfer fürchten um meinen Magen. Ich beruhige sie, dass dies meine letzte Runde ist) und laufe dann weiter. Jetzt bin ich mir sicher diesen Lauf erfolgreich zu beenden und beginne zu rechnen in welcher Zeit. Für 9:30 wird es wohl nicht ganz reichen, aber dicht dran. Also kämpfen. Die Gehpausen werden wieder weniger. Ich finde das ist ein spannendes Phänomen: Das Gehirn behält einen bestimmten Prozentsatz an Energie zurück und sendet frühzeitig ein Müdigkeitssignal. Diese Energie ist für den Notfall gedacht, wenn man einem gefährlichen Tier davonlaufen muss. Da jetzt die Anstrengung bald vorbei ist, gibt das Gehirn einen Großteil der zurückbehaltenen Energie nun frei. Deswegen nehmen in der letzten Runde die Gehpausen etwas ab.
Bei den jungen Leuten, die mich zwei Runden lang gehend zum Laufen angetrieben hatten, laufe ich, sie freuen sich. Auch das Kind mit Downsyndrom jubelt und freut sich mich laufend zu sehen. Bei Kilometer 7 lege ich eine Gehpause ein. Beim wieder Loslaufen kommt wieder der starke Schmerz in den Muskeln um das linke Knie herum und mir entfährt ein Schmerzensschrei. Sofort kommt der sich mit Fahrrädern fortbewegende Medical Service zu mir gefahren und fragt mich: „You are Okay?“. „Yes I´m OK, only feeling little pain!“ antworte ich und laufe weiter. Ich habe das Bedürfnis, mich zu bedanken und applaudiere vielen Zuschauern zu und verabschiede mich innerlich von den Straßen, Häusern und Menschen. Weil das Gehen sehr schmerzhaft ist befürchte ich, nach dem Wettkampf größere Gehprobleme zu bekommen. Zuerst aber laufen, kämpfen und finishen. Und das möglichst schnell.
Zieleinlauf
Nach dem Rondell geht es auf die Zielgerade, schon frühzeitig sagt mich der Racedirektor mit seinem Mikrophon an und spricht unter anderem das magische Wort „Finish“. Die immer noch zahlreichen an der Strecke stehenden Leute jubeln mir zu und beglückwünschen mich. Ich laufe ins Ziel. Eigentlich wollte ich die letzten paar Hundert Meter besonders genießen, geht aber nicht. Das Weiterlaufen ist einfach zu anstrengend, zu müde, dumpf und erschöpft bin ich. Ich kämpfe mich über die Zielinie. Für die letzte Runde brauchte ich 1:02 Stunden. Helfer wickeln mich sofort in eine Decke. Ich bedanke mich, gehe zum Ende der Absperrung, gebe sie ab und gehe zu Simone, nehme sie mit den Worten „es ist vollbracht“ in den Arm und danke ihr für die Unterstützung. Ich fühle mich glücklich, erschöpft, aber erstaunlich klar. Jedoch kann ich meinen Zustand nicht zuverlässig einschätzen, weiß nicht, was in Sachen Körper noch kommt. Deswegen rasch die „danach – Fotos“ schießen und ab in die Dusche. In der Umkleidekabine sind außer mir nur 50 km- und Staffelläufer. Ich kann mich nur schwer bewegen, es dauert ewig, die Kompressionssocken auszuziehen. In der Dusche kommt plötzlich an starker Schmerz an einer unerwarteten Stelle: an meiner Pofalte, sie ist enorm wund und brennt fürchterlich beim Duschen.
Nach dem Duschen hält mir ein 10 km – Staffelläufer mit den Worten „you had the harder competition“ die Tür auf, was mich rührt. Weil ich wegen der Schmerzen beim linken Knie beim Gehen während des Wettkampfs weitere und stärkere Schmerzen befürchte, will ich rasch zum Hotel in die Nähe eines Bettes, also in Sicherheit.
Unser Zimmer liegt im Nebengebäude im oberen Stockwerk. Man kommt über eine Außen – Eisentreppe dorthin. Also folgt nun ein „Ultratraillauf“: Ich muss mich mit meinen schmerzenden Haxen breitbeinig über die Eisenaußentreppe ins obere Stockwerk kämpfen. Simone hat ihren Spaß mir dabei zuzugucken und amüsiert sich königlich. Im Zimmer massiert sie meine Beine mit Magnesiumöl. Ich schicke an Familie und Freund ein Zielfoto mit den Worten „Das war der härteste, brutalste, schmerzhafteste Lauf meines Lebens aber völlig geil“ und nach einem kurzen Abendessen löschen wir das Licht. Simone schläft schnell ein, ich nicht. Sobald ich die Augen schließe, schießen unzählige Bilder des Laufs durch meine Kopf und stoppen nicht. Diese halten mich wach. Das kenne ich schon von anderen Wettkämpfen. Wenn ich mal einschlafe, werde ich schnell wieder von den Schmerzen in meine Beinen vom im Schlaf Umdrehen bzw. die Lage wechseln wach. Auch das gehört dazu.
Zwei Tage später am Montag, kann ich sogar wieder schmerzfrei liegen! Ich bin stolz was ich geleistet habe, bin 9:33:30 gelaufen, 21. von 93 Gestarteten und 53 gefinishten und das bei den holländischen Meisterschaften bei meinem ersten 100 Kilometerlauf.
Der Runwinschoten ist ein hervorragend organisierter Lauf, es fehlt an nichts. Die Bevölkerung ist in positiven Sinner verrückt: Die Leute setzen sich bei 15 Grad 9 Stunden an die Strecke, feuern die Läufer an und feiern. Die Musik an der Strecke ist nicht wirklich schrecklich, das hat vielmehr etwas mit der Verschiebung meiner Wahrnehmung zu tun durch die zunehmende Ermüdung. Irgendwann werde ich dort sicherlich mal wieder laufen.
Nachbetrachtung
Seit dem 8. September 2018, an dem das Rennen stattfand, regeneriere ich. Frühestens Anfang November fange ich mit Grundlagentraining an, Januar und Februar 2019 folgen marathonspezifisches Training, was mit der Teilnahme beim Kandel Marathon endet. Das hat damit zu tun, dass meine Schnelligkeit durch das Ultratraining etwas gelitten hat. Mit dem Grundlagen- und dem dann folgenden marathonspezifischen Training feile ich an meiner Grundschnelligkeit, die mir auch beim Ultralaufen hilft. Erst nach dem Kandelmarathon (mit seiner Blaskapelle bei Kilometer 15 und 17, diesmal werde ich sie erstmals genießen!) beginnt das ultraspezifische Training. Wo und wann ich nächstes Jahr meine Ultraläufe absolviere, steht noch nicht völlig sicher fest, ich werde es aber Anfang 2019 sicher wissen.
Dieses 100 Kilometerrennen in Winschoten bin ich aus Doofheit viel zu schnell angegangen. Das darf mir nie mehr passieren. Bis zum nächsten Ultralauf werde ich bei Volks- und Halbmarathonläufen erneut das Laufen eines bestimmten Tempos unter Wettkampfbedingungen trainieren und mir in der Taperingphase mehr Zeit nehmen zur mentalen Vorbereitung.
Für den nächsten Hunderkilometerlauf habe ich jetzt eine Hausnummer, im Schnitt bin ich 5:41/pro Kilometer gelaufen.
65 Kilometer bin ich mit reinem Willen gelaufen, dass das möglich ist, hätte ich nicht gedacht. Mein Hauptfehler war aber genau das: Man muss immer im „hier und jetzt“ bleiben. Wenn ich bei Kilometer 35 müde bin, aber noch weiterlaufen kann, muss ich das tun. Sich vorzustellen noch 65 Kilometer laufen zu müssen ist mentaler Selbstmord. Jeder erfahrene Ultraläufer weiß das, ich jetzt auch. Es reicht aber nicht aus, diese Dinge theoretisch zu wissen, man muss diese Dinge erleben, selbst erspüren und erleiden. Von dem her wird mir diese Erfahrung bei meinen nächsten Ultrawettkämpfen ungemein wertvoll sein und soviel kann ich verraten: Mittelfristig wird sich die Distanz meiner Wettkämpfe steigern.
In Sachen Linksdrall habe ich entsprechende Übungen in mein Athletiktraingsprogramm eingebaut. In meiner Praxis habe ich 2 Räume an einen sehr guten Osteopaten untervermietet. Mit ihm habe ich gesprochen, er zeigte mir die Übungen, die ich in mein Athletikprogramm eingebaut habe.
Die Schmerzen um das linke Knie herum kommen wie ich inzwischen weiß von einer mangelnden Rotationsfähigkeit meiner rechten Hüfte, wie ein Termin bei einem Spezialisten ergab. Das heißt die Probleme der linken Körperseite entstehen, weil diese Ausgleich für die rechte Körperseite machen muss. Ich weiß jetzt um die Gründe der Probleme und kann nun etwas tun.
Mein Magen wird wohl immer beim Ultralaufen empfindlich bleiben. Ich darf deswegen nicht so viele Kohlenhydrate zu mir nehmen wie irgend möglich. Gels vertrage ich fast nicht, höchstens eines alle 3 – 4 Stunden. Am besten vertrage ich flüssige der Firma Maurten. Im Winter werde ich viele Nüchternläufe absolvieren und die langen Läufe möglichst Kohlenhydratfrei, d.h.a b 3 Stunden vor bis Ende des Laufes keine Kohlenhydrate einnehmen. Da der Körper die Kohlenhydratspeicher schneller leert und dann keine mehr zur Verfügung hat, muss er auf Fettverbrennung umschalten. Das macht der Körper ungern. Jedoch hilft mir diese wiederum, bei den langen Distanzen besser durchzuhalten. Als „Lebensversicherung“ kann ich mir ja 1 Gel bei den langen Läufen mitnehmen, damit ich bei einem langen Trainingslauf nicht mitten „in der Pampa“ mangels Energie nach Hause wandern muss.
Weil dieser Lauf wirklich toll organisiert war und weil man die Rücknahme meiner Absage so einfach hinnahm schickte ich dem Racedirektor eine Dankesmail. Er antwortete mir mit „You finished your first 100 km loop with 9:33.30, you can be proud for that“ und das bin ich.
In der Haupttraningsphase für den nächsten Ultralauf möchte ich mich bewusster ernähren. Ich bin Stressesser, möchte leere Kohlenhydrate in der Hauptvorbereitungsphase ganz weglassen, ich glaube da ist noch viel Potential. Jedoch wird mir das sehr schwerfallen, aber ich versuche es. Es ist irgendwie auch schön zu wissen, dass ich noch Erfahrungen sammeln kann, besser werden kann. Der „Lauf meines Lebens“ war das Gott sei Dank noch nicht. Dieser liegt noch vor mir, es dauert noch etwas bis er kommt. Er wird aber definitv kommen und ich freue mich darauf.
Danken möchte ich an dieser Stelle meiner Familie: Unserem Sohn Gabriel („Wie weit bist du gelaufen Papa?“ „ Ach 35 Kilometer! Nur!“) und meiner Frau Simone („Dass du Ultra laufen willst, weiß ich schon lange. Endlich kapierst du´s auch, ich unterstütze dich!“), die meine Lauferei mittragen. Dafür erhalten sie abends einen erheblich fröhlicheren, ausgeglicheneren Papa bzw. Ehemann. Das Ende meiner langen Verletzungsperiode sehnten auch sie herbei.
Dem ist nichts hinzuzufügen außer Danke…
Vielen Dank an Janny Heijerman (Per en PR RUN Winschoten) für die Erlaubnis 2 Fotos verwenden zu dürfen.
Kommentar
Der 2 fache Deutsche Meister im 24h – Lauf (AK) Udo Pitsch (www.marathon.pitsch-aktiv.de) kommentierte meinen Laufbericht. Da ich seinen Kommentar absolut auf den Punkt gebracht brillant empfinde, gebe ich ihn mit seiner Erlaubnis hier wieder:
„Hallo Cornelius,
zunächst meinen herzlichen Glückwunsch für deine Leistung. Mehr als die reine Laufzeit, imponiert mir deine Fähigkeit Entkräftung und Schmerzen zu trotzen. Großes Kino!
Wenn man Fehler macht, egal ob renntaktische oder wobei auch immer sonst, braucht einen im Nachgang niemand darauf hinzuweisen. Die offenbaren sich von selbst, führen dazu, dass man leidet wie ein Hund. Beschehren zumindest Unpässlichkeiten, Beschwernis oder im Nachgang irgendwelche Leiden. Du hast Verbesserungswürdiges und -fähiges aufgezählt. Andererseits sind es auch solche Fehler, die einen weiterbringen. Weil sie einen in Zustände versetzen, die man für Minuten oder Stunden glaubt nicht durchstehen zu können. Dass man es dann doch packt ist viel wichtiger als die Laufzeit. Das ist der wahre Wert eines erfolgreich zu Ende gelaufenen Wettkampfs. Wenn du weiter Ultra läufst, wirst du dir deine Ziele immer höher stecken. Deshalb werden diese scheinbar unüberwindlichen Barrieren, wird die Aussichtslosigkeit des Augenblicks dich immer wieder herausfordern. Genau das ist das Wesen des Ultralaufs. Ob du schon so weit bist die ganze Wahrheit zu verstehen, weiß ich nicht. Für mich lautet sie: Die aus adäquatem Training entspringende physische Fähigkeit die Distanz in einer bestimmten Zeit zu schaffen ist nicht mehr als die Voraussetzung für ein Finish. Erfolgreich, siegreich ist man mit dem Kopf. Nur mit nie erlahmendem Willen und der Fähigkeit notfalls auch über Stunden zu leiden, kommt man ins Ziel. Du schriebst:
„65 Kilometer bin ich mit reinem Willen gelaufen, dass das möglich ist, hätte ich nicht gedacht. Mein Hauptfehler war aber genau das: Man muss immer im „hier und jetzt“ bleiben. Wenn ich bei Kilometer 35 müde bin, aber noch weiterlaufen kann, muss ich das tun. Sich vorzustellen noch 65 Kilometer laufen zu müssen ist mentaler Selbstmord.“
Man kann noch viel weiter als 65 Kilometer mit „reinem Willen“ laufen. Mir ging es zuletzt bei den 100 Meilen Berlin so. Da war ich nach 50 km leer und hatte noch 110 vor mir. Und doch wusste ich, dass das geht und wie es geht. Hab diesen Punkt, ab dem jeder „vernünftige“ Mensch die Lauferei einstellen würde, oft genug erlebt und damit auch oft genug erlebt, dass es ab der Marke „ich habe fertig“ dennoch weitergeht. Du wirst in ein paar Jahren wissen, wie wichtig dieses Erlebnis für dich war. Wirst erleben, dass es dich mental enorm stark macht. In so einer Situation nicht aufgegeben zu haben ist ein großes Pfund, mit dem du künftig in dir selbst wirst wuchern können. Und auch das noch: Zu Beginn meiner Marathon- und später meiner Ultrazeit scheute ich den Gedanken wie viele Kilometer noch vor mir liegen wie der Teufel das Weihwasser. Hatte Angst vor depressiven Phasen. Habe sie auch erlebt, zu Anfang, etwa bei einem 12h-Lauf. Heute ist das anders. Inzwischen kann ich „leer“ sein und trotzdem den Zähler munter rückwärts laufen lassen. Weil ich diese Situation des scheinbaren „nichts geht mehr“ oder „bald geht nichts mehr“ so, so, so oft erlebte. Sie sogar sehenden Auges herbeiführte, weil ich aus vollem Training heraus in Ultrawettkämpfe ging, die mir Mittel zu noch längerem Zweck waren.
Ursprünglich wich ich auf die Ultrastrecke aus, weil ich mich darüber ärgerte, dass ich mir an der 3h-Stunden-Marke beim Marathon immer wieder den Kopf einrannte. Ein Teil meines Naturells ist das eines Grenzgängers. Keiner jener Hasardeure, die dabei mit ihrem Leben spielen. Davor hätte ich Angst. Aber sich ausdauermäßig völlig zu verausgaben war mir immer schon Abenteuer wert. Also suchte ich nach dem Punkt, hinter dem wirklich Schluss ist. Ab dem ich nicht mehr laufen kann, einfach umfalle oder mich niedersinken lasse. Der kam nicht bei 100 km, auch nicht nach 24 Stunden, nicht einmal nach hinter 246 km des Spartathlons. Das weiß ich heute, nach vielen auch sehr langen Ultraläufen. Andererseits höre ich auf meinen Körper, der mit auf dem Weg von Athen nach Sparta nahelegte, es bei dieser Anforderung einmalig zu belassen. Sie nicht toppen zu wollen, ja sogar künftig darunter zu bleiben. Das ist vordringlich eine Entscheidung, die meinem Alter geschuldet ist. Darum rate ich jedem Ultraläufer seine Träume zügig zu verwirklichen. Nichts überstürzen selbstverständlich, sich sinnvoll über die Jahre aufbauen, aber auch nicht säumig sein.
Man fasst als nächstes Ziel meist einen läuferischen Traum ins Auge, oder eine Leistung, die einem als Herausforderung gilt, beschrieben in Kilo- und Höhenmetern, die es zu überwinden gilt. Ich habe rückblickend erkannt, dass hinter diesen vordergründigen Zielen ganz andere Ziele erreicht werden, von denen man oft nicht einmal weiß, dass es sie gibt, noch weniger, dass sie wichtig sein könnten. Zum Beispiel war mir irgendwann klar, dass ich aufgrund meines Ultratrainings und zahlreicher Ultrawettkämpfe fähig bin jederzeit – also jetzt, oder morgen, heute Nacht – einen Marathon zu laufen und – so es mich gelüstet – tags drauf erneut, wieder und wieder. Loslaufen und Ankommen, Zeit egal. Geht jederzeit und mehrfach. Ich war verblüfft über diese Erkenntnis. Hab sie irgendwann in eine spezielle Form des Wettkampfs umgesetzt – 10 Marathons in 10 Tagen, verbunden mit einer Zielzeitvorgabe. So ein „hintergründiges Ziel“ für dich könnte sein, durch vielfache Wiederholung des Erlebnisses der schieren Aussichtslosigkeit in einen Zustand zu kommen, in dem dich rein gar nichts mehr erschrecken kann. So geht es mir seit einiger Zeit. Dass dieser Zustand wichtig ist ergibt sich aus der Tatsache, dass ich immer wieder in Situationen gerate, die von Anflügen von Verzweiflung geprägt sind, die auch neu sind und mir dann verbindlich Mut machen kann: Ich habs immer geschafft, egal wie aussichtslos es schien, also schaffe ich es heute auch …
Beim Lesen deines Berichtes musste ich mehrmals schmunzeln, fand mein eigenes Empfinden in ähnlicher Situation lebendig wiedergegeben. Zum Beispiel die wachsende Reizbarkeit, wenn man leidet und dieses Leiden sich nach und nach verschärft. Dann geht mir so ziemlich alles auf den Wecker, ganz besonders natürlich zweifelhafte musikalische Darbietungen …
Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und hoffe wir sehen uns in 2019 irgendwo auf oder an einer Strecke.
Herzlichen Grüße
Udo“
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